Wildcat Nr. 89, Frühjahr 2011 [w89_italien.html]



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Unmut wird Wut:
Bewegungen gegen die Krise in Italien

Wie in anderen Ländern in und außerhalb Europas (siehe die jüngsten Auseinandersetzungen in Nordafrika) kam es auch in Italien in den letzten Monaten zu sozialen Kämpfen, wie es sie quantitativ und qualitativ schon lange nicht mehr gegeben hat. Schon vor zwei Jahren waren tausende Studierende in der Bewegung »Onda Anomala«1 gegen die fortdauernde finanzielle Austrocknung der Unis (die berüchtigten Einschnitte am staatlichen Finanzierungsfonds im Haushaltsentwurf vom Sommer) auf die Straße gegangen – und hatten sich dort in die viel breitere Mobilisierung von MittelstufenschülerInnen und LehrerInnen der Primar- und Sekundarstufe gegen die Schulreform von Ministerin Gelmini eingereiht.

Trotzdem schaffte es die Bewegung nicht, die weitergehende gesellschaftliche Unzufriedenheit aufzunehmen (auch die gegen die Berlusconi-Regierung gerichtete legalistische Linke begleitete etwa im Gewand der Zeitung La Repubblica nur die ersten Schritte der Bewegung), sie blieb somit isoliert und verschwand nach dem Herbst in der Versenkung, ohne viel erreicht zu haben.

Mit der Verschärfung der Krise 2010 fanden dann jedoch mehr oder weniger stille Kämpfe statt: am oder für den Arbeitsplatz, zum Schutz der Umwelt (Aquila, Terzigno) oder in diffuser Weise gegen die Regierung. Der mutige Versuch der FIAT-ArbeiterInnen in Pomigliano, sich der Erpressung durch den Vorstandschef Marchionne zu widersetzen, sticht besonders hervor. Dieser drohte, das Werk zu verlagern, und machte damit massiv Druck gegen die gewerkschaftlichen Vertretungen und für noch miesere Arbeitsbedingungen.

Die Gewerkschaften FIM-CISL und UILM-UIL kollaborierten im Wesentlichen und ließen die FIOM (die Metaller-Abteilung der CGIL) und die Basisgewerkschaften im Stich. Diese erhielten aber Unterstützung und Zustimmung aus weiten Teilen des Landes.

Gleichzeitig wuchs mit dem endgültigen Bruch zwischen dem Parlamentspräsidenten Gianfranco Fini und Berlusconi die innere Krise der Regierungsmehrheit. Nachdem Teile der italienischen (vor allem das industrielle Großkapital) und der ausländischen Bourgeoisie (siehe etwa die fortwährenden Attacken des Economist) Berlusconi ihre Unterstützung entzogen haben, haben seine andauernden Skandale im Privatleben, sowie im Umgang mit Geldern und staatlichen Strukturen, nun auch seine Beliebtheit unabwendbar untergraben.

Vor diesem Hintergrund begannen im Herbst 2010 erneut Aktionen an den Universitäten. Zunächst protestierten die Assistenten gegen die bevorstehende Hochschulreform, die sie finanziell und in Hinsicht auf ihre Vertragsbedingungen schlechter stellen würde. Mit Vorlesungsbeginn schlossen sich viele Studierende an, sie protestierten gegen den Gesetzentwurf, weil er die Verwaltung der Unis noch stärker dirigistisch umkrempeln (zum ersten Mal sollen Personen von außerhalb – also aus »Wirtschaft« und »Politik« unmittelbar an der Universitätsverwaltung beteiligt werden) und das »Recht auf Studium« nebulös umstrukturieren wollte – die zudem angekündigten Kürzungen machten deutlich, dass es substanziell ausgehöhlt würde.

Die Demos am 16. Oktober, zu denen die FIOM aufgerufen hatte, wurden dann zum Ort und Moment, an dem diese unterschiedlichen Motivationen zusammenkamen. Es ging nicht nur um Arbeiterthemen, sondern um die Metallergewerkschaft herum fand sich ein breites Spektrum zusammen (Studis, knowledge workers, Bewegungen für kommunales Wasser, Bürgerrechtsvereinigungen, popolo viola2, usw.) und machte diesen Tag zu einem Massenereignis.

Gefolgt von einer nationalen Versammlung am Tag danach in der römischen Uni La Sapienza, war dieser Tag ein erster Schritt beim Versuch einer politischen Neuzusammensetzung, wenn auch vielleicht mehr angekündigt als tatsächlich praktiziert. Es folgte eine große Anzahl von Versammlungen, Tagungen, öffentlichen Aufmärschen usw., die den schwierigen, widersprüchlichen und oft auch nur symbolischen Versuch darstellten, einen Pfad gemeinsamer Kämpfe zwischen der fragmentierten Welt der Arbeit und derjenigen der Bildung aufzubauen, die in konstanter Unruhe gegen die Restrukturierungspläne der Ministerin Gelmini geblieben war, wenn auch fast ausschließlich in der politischen Praxis der Studierenden.

In einem Klima mehr oder weniger offenen gesellschaftlichen Aufruhrs ging derweil die Regierungskrise weiter, am 14. Dezember musste Berlusconi in beiden Parlamentskammern die Vertrauensfrage stellen. Das war für die sozialen Bewegungen eine Gelegenheit, um ihr Misstrauen auf die Straße zu tragen.

Während Berlusconi drinnen im Palast mit gekauften Parlamentarierstimmen so gerade noch sein Überleben sicherte, verwüsteten junge Studenten, Arbeiter und Arbeitslose die Stadt. An den militanten Aktionen beteiligten sich viele StudentInnen und durchkreuzten damit das Spiel der Reformisten, zwischen »Guten« und »Bösen« zu unterscheiden. Trotz aller Widersprüche und obwohl dieser Ausbruch bisher singulär geblieben ist, kamen in ihm unterschiedliche Teile der Bewegung zusammen und verfestigten ihre Beziehungen.

Das bestätigte sich zum Teil, als kurz darauf FIAT-Chef Marchionne den Arbeitern des Turiner Werks erneut damit drohte, Mirafiori (den größten Industriekomplex Italiens) zu schließen, wenn sie nicht einem neuen Vertrag zustimmten, der neben Verschlechterung der Arbeitsbedingungen die substanzielle Aufhebung der wichtigsten gewerkschaftlichen Rechte vorsah. Denn diesmal blieben die FIOM und die Basisgewerkschaften (die anderen Gewerkschaften stellten sich erneut auf die Seite der Unternehmensleitung) mit ihrem Protest nicht allein. Ungeachtet der knappen Niederlage zeigte die Abstimmung, dass die Arbeiter entschlossen sind, nicht weiter vor Erpressungen zurückzuweichen, und es gab viele begleitende Unterstützungs- und Solidaritätsveranstaltungen (nicht nur) von seiten der Studentenbewegung, die sich auch sofort dem Streik vom 28. Januar anschloss.

Schon immer changiert die FIOM zwischen Positionen von Gegenmacht und Co-Management, je nach Situation. Ihre soziale Basis sind die klassischen Arbeiterschichten, seit Neuestem aber auch mehr Junge, Migranten und Frauen. Im Unterschied etwa zu Frankreich entwickeln sich in Italien keine neuen Arbeiterorganisationen parallel zu den historischen Gewerkschaften. Stattdessen gab es in den letzten Monaten unter der Parole »Vereint gegen die Krise« ein informelles Bündnis zwischen der FIOM und einigen Basisorganisationen (Soziale Zentren im Umfeld der Disobbedienti). Augenblicklich versuchen sie damit, sozialstaatliche Forderungen (»Bürgergeld«) mit historischen Gewerkschaftsforderungen (Arbeitsbedingungen) zusammenzuhalten; bezeichnenderweise war die Hauptparole der Demos beim Streik am 28.Januar: »Die Arbeit ist ein gemeinsames Gut«.

Schwankend zwischen gemeinsam erlebten Kämpfen und Konflikten, taktischen Allianzen, halb-institutionellen Absprachen und mehr oder minder symbolischen Zusammenkünften vertiefen sich die Verflechtungen zwischen der Arbeitswelt und den Mobilisierungen an Schulen und Unis.

Die Wurzeln des Unbehagens

Der italienischen Wirtschaft ist in den letzten 20 Jahren die Großindustrie abhanden gekommen (wobei FIAT nun womöglich der finale Schritt ist). Die Privatunternehmer fuhren bei der Privatisierungswelle große Gewinne ein, während die Industrieregionen in der Krise steckten und das industrielle Wachstum verkümmerte. Gleichzeitig entstanden international tätige, vitale Klein- und Mittelbetriebe, die sogenannten »Multis im Westentaschenformat«. Was man als Italiens »vierten Kapitalismus« bezeichnet, ist eine Kombination aus der Spitzenstellung bei Prekarisierung, Deregulierung und Zersplitterung des Arbeitsmarkts in Groß- und Kleinbetriebe mit der Fähigkeit, zweitgrößter europäischer Exporteur von Industrieprodukten auch in bedeutenden Nischen und Branchen zu sein. Italien ist ein Bindeglied zwischen der Produktion hochwertiger Konsumgüter mit hoher technischer Kapitalzusammensetzung im Norden, und einer Produktion mit hoher Ausbeutung in Osteuropa und Ostasien; dort gehen niedrige Löhne, lange Arbeitszeiten und hohe Arbeitsintensität – im Unterschied zur alten Unterentwicklung – zuweilen mit der Fähigkeit einher, in neue und relativ fortschrittliche Bereiche vorzudringen.

Ganze Bereiche technologischer Forschung, wie Chemie und Elektronik, wurden abgebaut, während man Loblieder auf das Wirtschaftswunder des Nordostens anstimmte: ein ökonomisches Modell, das niedrige Investitionen, wenig Technologie und kaum vorhandende Forschung mit langen und auf Samstag und Sonntag ausgedehnten Arbeitszeiten, der Zerstückelung des Produktionsprozesses und dem flächendeckenden Abbau der gewerkschaftlichen Organisierung kompensierte. Aber auch dort, wo Technologie und Investitionen noch eine Rolle spielen, werden die ArbeiterInnen immer stärker der vernetzten Struktur eines neuen Kapitalismus untergeordnet, in dem die Aufteilung Großbetrieb (gleiche Arbeitsbedingungen und gleiche Verträge unter dem selben Dach) und Klitsche nicht mehr gilt. Sicherlich wurde diese Zentralisation ohne Konzentration des Kapitals erst durch die Innovationen im Transport und bei der Kommunikation ermöglicht, vor allem aber war sie die Antwort auf die hohe Konfliktualität, die der Kapitalistenklasse noch heute Angst vor großen Arbeiterkonzentrationen einjagt.

Dabei wurden die Arbeitsverträge so stark ausdifferenziert und der Gesamtarbeiter so weit zerstückelt, dass es manchmal für den Arbeitsprozess selbst kontraproduktiv geworden ist. Die jungen Generationen aber finden in diesem Szenario auch das Meer, in dem sie sich bewegen und wo immer möglich lebenslange monotone, repetitive oder schlecht bezahlte Arbeit verweigern. Offiziell ist fast ein Drittel der italienischen Jugendlichen arbeitslos: aber viele von ihnen entziehen sich dem Schicksal der Prekarität oder dem Absenken ihrer Erwartungen mit einer Mischung aus Sozialknete, Schwarzjobs, Rückgriff auf Ersparnisse der Eltern und stark eingeschränktem Konsum. Was die Soziologen mismatch auf dem Arbeitsmarkt nennen, also gleichzeitige Arbeitslosigkeit und offene Stellen, steigt weiter an. Jugendliche mit guten Zeugnissen finden keine entsprechende Arbeit. Sie machen den harten Kern des Protests aus – zusammen mit denen, die noch in der Ausbildung sind, aber schon kapiert haben, welche elenden Perspektiven sie erwarten.

Die Eroberung einer kollektiven Dimension

Über diese wirtschaftliche und soziale Zerrüttung schob sich die institutionelle und politische Krise der Regierung Berlusconi; und vor diesem Hintergrund entwickelten sich die Kämpfe 2010. Sie scheinen langsam wieder den roten Faden der kollektiven Dimension aufzunehmen, nachdem die Prekarisierung jahrelang als psychologisches und ideologisches Instrument zur Steuerung der Arbeitskraft funktioniert und die einen gegen die anderen aufgewiegelt hatte. Bei vielen herrscht noch die daraus resultierende Angst und Resignation, aber viele andere ArbeiterInnen und StudentInnen reagieren auf die Krise, indem sie Verbindungen zu anderen gesellschaftlichen und arbeitenden Subjekten suchen.

Der gewalttätigen Selbstbezogenheit einer politischen Klasse ohne jeden Bezug zum Rest der Gesellschaft wurde dabei auch militant entgegengetreten: in Rom und Athen wurde versucht, das Parlament zu stürmen, in London gelang der Sturm aufs Tory-Hauptquartier. Die Gewalttätigkeit der europäischen Regierungen drückt sich im Ausnahmezustand aus, der zur normalen Regierungspraxis geworden ist. Sie kann nicht rechtsstaatlich reguliert werden, denn sie ist die Natur des Staates selbst, so wie die Polizeiattacken die »demokratische Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung im Namen des Volkes« sind.

Die unverblümte Gewalttätigkeit des Staates ist kein Demokratiedefizit, das durch Einflößen von etwas demokratischer Teilhabe und »Zivilgesellschaft« geheilt werden könnte, sondern das Ergebnis eines Kurses, den Margaret Thatcher 1987 in die Worte fasste: »There is no such thing as society. There are individual men and women, and there are families«. Das war bereits ein Epilog auf eine Reihe von Kämpfen und Niederlagen und leitete eine neue Angriffsrunde auf alles ein, was noch Reste von »gemeinsam« und »kollektiv« beinhaltete: Rechte, Arbeitsverträge, Gesundheitsversorgung, öffentliche Dienste, Wohnungsfrage.

Kollektive Rechte und Verträge sind nicht in einer Art natürlicher Reifung der Rechtskultur entstanden, sondern in den Kämpfen der Arbeiterbewegung errungen und so lange es ging verteidigt worden. Im normalen Verlauf des modernen Staates sind sie eine Anomalie, und nur gemäßigt oder »radikal« linke Politiker und Gewerkschaftler geben sie als »rechtsstaatlichen Normalzustand« aus. Wann immer nötig oder nützlich, hat der moderne Staat sein Verhältnis zu den individuellen Rechten umdefiniert und dabei vorgebliche Garantien komplett ausgehöhlt oder gleich ganz abgeschafft. Wir müssen die Anomalie wieder herstellen – und nicht versuchen, die Staatsmaschine auf die Gleise juristischer Normalität zu setzen.

Der Betrug der 80er und 90er Jahre bestand nicht darin, dass sich eine politische Klasse nicht um ihre Kinderchen gekümmert hätte, sondern in der Neutralisierung der Politik durch das Recht. Die sogenannten Linken wollten den Staat durch neue Rechte für Minderheiten und benachteiligte Individuen demokratisieren. Nach und nach übernahmen auch die Vertreter der Arbeiterbewegung diese Auffassung – während die kollektiven Rechte untergraben und das Recht der Arbeiterklasse zersetzt wurde, zu deren Verteidigung Gewalt anzuwenden. Das wurde zu einer allgemeinen Ansicht – zumindest bis vor ein paar Monaten. Denn die aktuellen Mobilisierungen haben diese Vorstellungswelt angekratzt, den Betrug der politischen Repräsentanz aufgezeigt und den Weg freigemacht zu Kämpfen für gemeinsame Rechte und Güter.

Der Kapitalismus entwickelt zwar die Voraussetzungen eines Kampfs für Demokratie, zersetzt sie aber zur selben Zeit. Das Kapitalverhältnis ist fundamental unvereinbar mit Demokratie, es ist seinem Wesen nach totalitär im engen Sinne. Die Demokratie kommt von außen, von diesem radikal Anderen, das es sich trotz allem »einverleiben« muss, d.h. sie kommt von der »lebendigen Arbeit«, von der Abhängigkeit des Kapitals von den Kämpfen der Arbeiterinnen und Arbeiter aus Fleisch und Blut, Geist und Körper. Rechte gründen sich entweder auf die Macht am Arbeitsplatz, oder sie werden früher oder später zu einem hohlen Trugbild. Deshalb brauchen wir eine andere Politik und Praxis von Demokratie:eine andere Art von Demokratie. In den heutigen konkreten und materiellen Kämpfen macht sie ihre ersten Schritte, wenn auch noch unsicher, als Vorankündigung und Vorwegnahme.

Auf der Suche nach einem gemeinsamen Terrain

Solange aber die verschiedenen an dieser politischen Praxis beteiligten Gruppierungen das einigende Thema in ihrer gemeinsamen »prekären« Lage sehen, in einer beschreibenden und psychologischen Kategorie, die nicht mehr bringen kann, als dem in der kollektiven Revolte ausgedrückten Zorn einen Namen zu geben, solange bleibt jede Hypothese einer realen Gemeinschaft substanziell verletzlich.

Solange die studentischen Revolten Ausdruck einer jungen Generation bleiben, die fürchtet, »keine Zukunft« zu haben, die sich als »vorherbestimmt für ein Leben als Ausschuss«, für ein »prekäres Leben« empfindet, solange sie auf die Straße geht, um »die Alten auf ihre Verantwortung festzunageln« ... solange bleibt dieser Zorn gegen jemanden gerichtet, der uns verraten hat, der sich um uns hätte kümmern müssen und es nicht getan hat. Er ähnelt sehr dem pubertären Zorn gegen den gesellschaftlichen Maternalismus, der erst die eigenen Kinder in der warmen honigsüßen Milch einer von wohltätigen Institutionen und Eltern-Freunden durchorganisierten und beschützten Gesellschaft fast ersäuft, und dann ihre Erwartungen verrät – denn sie betrachten einen garantierten und ihrem Studienabschluss entsprechenden Arbeitsplatz als ihr spezielles individuelles Recht. Solange sie weiter von sich als »Junge« und »Studierende« reden, können sie ein Grundeinkommen reklamieren, weil das ja die Fortsetzung des von Mama und Papa bezahlten Taschengelds ist. Aber mit diesem Szenario entfernt man sich keinen Millimeter von Thatcher: »There are individual men and women, and there are families.«

Wenn sich der Zorn darauf beschränkt, wie es besonders die Forderungen der Ingenieur- und Naturwissenschafts-Studenten zeigen, einer politischen Klasse die Schuld zu geben, weil diese nicht den offenkundigen Schluss zieht, dass Investitionen in die Forschung zu Innovation führt, und Innovation die Wettbewerbsfähigkeit des Landes stärkt; wenn es also nur Zorn auf eine politische Klasse ist, weil sie keinen »richtigen« Kapitalismus betreibt, dann ist dieses Terrain nicht die Basis für eine »Neuzusammensetzung« der sozialen Bewegungen, sondern kann leicht zur Grundlage ihrer Zersetzung werden, weil der Schutz der »Jungen« und »Studierenden« vor Prekarität leicht zur Last auf dem Rücken der »Älteren« und »Festeingestellten« werden könnte, indem man z.B. die Renten oder andere Bestandteile des Wohlfahrtsstaats kürzt, oder die ArbeiterInnen im Produktionsprozess noch mehr auspresst. Oder man verlangt vom öffentlichen (aber auch vom privaten) System höhere Investitionen in Forschung und Entwicklung, damit Italien sich in der internationalen Arbeitsteilung »besser« positioniert.

Ob man ein »Existenzgeld« fordert auf der illusorischen Grundlage, wonach Menschen in jeder ihrer Aktivitäten (oder Inaktivitäten) produktiv seien, oder ob man einen Platz an der Sonne verlangt, weil »Männer der Wissenschaft« wertvoll für das ökonomische Wachstum seien, das politische Ergebnis ist in beiden Fällen dasselbe: anstatt für einen historischen und gesellschaftlichen Lebensunterhalt als Teil der Klasse zu kämpfen, unabhängig von jedwedem Beitrag zur kapitalistischen Wertschöpfung oder zu kapitalistisch definierten Gebrauchswerten, beschränkt man sich darauf, eine Anhebung des eigenen Status' zu fordern, eine Verbesserung der Bedingungen der eigenen Schicht, auch wenn es auf Kosten der Ausbeutung eines anderen geht. Politisch können wir das nur überwinden, wenn wir über die Auseinandersetzungen auf der Verteilungsebene hinausgehen und die Kämpfe um (gesellschaftlichen) Lohn mit der Frage verbinden, was, wie und wieviel produziert wird.

Denn die Dynamik der kapitalistischen Entwicklung in Italien und darüberhinaus zeigt, wie fragil die Standortperspektive ist. Der sogenannte »Königsweg zur Wettbewerbsfähigkeit« – den diejenigen beschwören, die höhere Investitionen in die Forschung fordern, wobei sie allzu simpel die »wissensbasierte Ökonomie« gegen die »materielle« Arbeit stellen – produziert nur dann mehr Mehrwert, wenn zur höheren Produktivkraft der Arbeit auch ihre intensivere Verausgabung und ein längerer Arbeitstag kommen. Entlang der transnationalen Verwertungsketten überkreuzt sich überall die Extraktion von relativem und absolutem Mehrwert: sowohl in den westlichen Metropolen wie im Osten oder im Süden Europas. Und nicht nur Marchionne zeigt uns, dass auch in den Sektoren hoher relativer Mehrwertproduktion das kapitalistische Bedürfnis nach autokratischer Herrschaft in der Fabrik schwindelerregend zunimmt, ohne Rücksicht auf das physische und mentale Wohlergehen der ArbeiterInnen.

Die Reformen des Bildungszyklus der letzten fünfzehn Jahre sind nicht die Ausgeburt von unterbelichteten Politbürokraten, sondern ein Versuch, die Bildung mit den Prozessen kapitalistischer Rationalisierung des Wissens in Einklang zu bringen, und die »Gelmini-Reform« ist nur der letzte Akt in dieser Reihe inhaltlicher Kontinuität. Wissen auf Infopakete zu reduzieren, erfordert keine großen Investitionen, solche Pakete sind dank billiger Technologien gesellschaftlich verfügbar und können in den Sekundarschulen und Universitäten von Dozenten gelehrt werden, die genauso »prekär« sind wie die Informationen, die sie weitergeben. Die Infopakete sind normale Waren, die auf dem Markt gekauft werden können und deren Produktion ausgelagert werden kann.

Als Produktionssystem hat die Bildung dagegen eine andere Funktion, sie soll Werktätige produzieren, das ist genau so wichtig wie die Produktion von Waren. Für einen Teil der »postfordistischen« Produktion brauchen diese keine besonderen Qualitäten, stattdessen müssen sie eine besondere Einstellung lernen, das »lebenslange Lernen«, eine Fähigkeit, die von der EU zu den Schlüsselkompetenzen gezählt wird. Sie müssen die auf dem Bildungsweg verabreichten »Wegwerf«-Infopakete »lernen«, weil Bildung heute wie die »Gebrauchsanweisung« für eine neue Verfahrensweise funktioniert, sie ist schnell überholt, und im Verlauf von »kontinuierlicher Weiterbildung« werden neue Gebrauchsanweisungen nötig. Andere Teile der Produktion verlangen größere Qualifizierung und mehr Beteiligung der ArbeiterInnen, (mehr denn je) braucht man deren Engagement für die Herstellung von Gebrauchswerten, die sich hervorheben und nicht vermasst erscheinen, für die notwendige Flexibilität in einem sprunghaften Arbeitszyklus mit vielen Wechseln, für die Umsetzung des Werts von Produktionswerkzeugen, die immer schneller überholt sind. Die teilweise Höherqualifizierung und die begrenzte Unabhängigkeit dieser ArbeiterInnen vom Produktionsablauf wären aber ein unakzeptables Risiko. Weil sie aber nicht mehr mit der Waffe der direkten Kontrolle oder einer allzu linearen Dequalifizierung kontrolliert werden können, soll die scheinbare Herrschaft des Marktes über die Produktion diese Rolle spielen (die Börse gebe den Rhythmus der Kapitalverwertung vor, die internationale Konkurrenz oder der öffentliche Haushalt setzten Grenzen, genauso werden das make or buy, die Dezentralisierung, die Fremdvergabe und das innerbetriebliche outsourcing ausgespielt). Wer ständig Bildungskrediten hinterherlaufen muss, wird schon im Studium dazu erzogen, dem Inhalt der Lehre so gleichgültig wie möglich zu begegnen, und sich dem timing und der Logik des Marktes anzupassen. Deshalb vermischt sich in den Kämpfen der Studierenden auf konfuse Weise das Bewusstsein, dass nicht alle studieren können oder sollen, auch wenn das bisher nominell allen offen steht, mit der Desillusionierung oder dem Zorn derer, die ihre Erwartungen enttäuscht sehen.

Die kapitalistische Rationalisierung des Wissens hat aber nicht nur die Bildungsinstitutionen verändert, sondern auch das Wissen selbst, das einerseits in Pakete zerlegbar wurde, die nach dem Funktionscode ihrer maschinellen Vergegenständlichung aufgebaut sind, andrerseits Qualifikationen und Spezialisierungen liefern muss, die ohne Sinn und Zusammenhang auskommen. Es soll das »wie« gelehrt werden, ohne dass die Frage nach dem »warum« und »für wen« auftauchen kann. Es geht nicht mehr um die Alternative zwischen öffentlicher und privater Schule und auch nicht um die gemeinsame Aneignung dieses zutiefst kapitalistischen und informatisierten Wissens: das sind Wunschträume von Leuten mit klassischer Bildung, oder von Jugendlichen, die eingängige Parolen suchen.


Stattdessen müssen wir über Bildung, Wissen und Arbeit ausgehend von unseren eigenen Bedürfnissen diskutieren, um zu bestimmen, was, wieviel und wie wir produzieren. In einer Fabrik oder in einem Callcenter, wo die in den Arbeitsmitteln vergegenständlichten Kenntnisse dazu dienen, Arbeit auszupressen, genau so wie dort, wo diese Kenntnisse unabhängig von ihrer Qualität und ihrem Anwendungszweck produziert werden. Denn damit soll ein Entwicklungsmodell verewigt werden, das nur dem Profit dient, und dem physische, moralische und ökologische Zerstörung gleichgültig sind.

Bis vor wenigen Jahren wären solche Vorstellungen als reine Ideologie angesehen worden. Aber die objektive Krise des Kapitals und die Kämpfe der Menschen innerhalb und gegen diesen höllischen Mechanismus setzen sie heute wieder auf die Tagesordnung. Sie könnten das gemeinsame Terrain bilden, auf dem Arbeiter und Leute, die an den Unis kämpfen, vor allem Assistenten und Studierende, zusammenkommen, so wie sie schon in den Kämpfen der letzten Monate zusammengekommen sind.


Genossen aus Italien, März 2011

versione italiana

Fußnoten:

[1] Anomale Welle, auf deutsch etwa Riesenwelle

[2] Die Bewegung Violettes Volk ist im Internet entstanden. Der Name drückt aus, dass sie sich keiner Partei zugehörig fühlen. Sie sind gegen Berlusconi, fundamental rechtsstaatlich und fordern Gerechtigkeit und Informationsfreiheit ein. Es ist eine Bewegung des in »sozialen Netzwerken« virtuell verbundenen Kleinbürgertums, das denkt, das Problem bestünde in einem Erwachen des demokratischen Bewusstseins.



aus: Wildcat 89, Frühjahr 2011



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